Wir hören häufig, dass Stretching unser Verletzungsrisiko senkt und uns bei der Regenration nach dem Sport hilft.
Vielleicht gehörst auch du zu denjenigen, die ein schlechtes Gewissen haben, weil sie sich am Ende des Trainings nicht genug dehnen?
Oder vielleicht hast du dich schon einmal beim Training verletzt und du glaubst, es liege daran, dass du zu wenig Dehnübungen machst?
Was ist dran am Stretching und Dehnen?
Was kannst du mit Stretching erreichen? Wann solltest dich dehnen – und wann lieber nicht?
Stretching (oder Dehnen) soll die Beweglichkeit verbessern. So viel steht fest.
Wie das jedoch genau geschieht, ist erstaunlicherweise schon eine ungeklärte Frage.
Wenn du dich dehnst, dann strecken sich die Muskelfasern, Sehnen und Bänder. Viele glauben daher, dass regelmäßiges Stretching dazu führt, dass sich die Muskeln dauerhaft verlängern und das du dadurch flexibler wirst.
Einer bekannten Theorie nach, ist dies allerdings nicht der Fall.
Nach dem Stretch-Toleranz-Modell scheint es vielmehr so zu sein, dass dir dein Nervensystem durch das Dehnen einen größeren Bewegungsspielraum „erlaubt“.
Oder anders formuliert: Wenn du nicht so beweglich bist wie du es dir wünscht, dann liegt das daran, dass dich dein Hirn daran hindert – nicht die Muskeln und Bänder.
So will dein Hirn verhindern, dass du Blödsinn anstellst und deine Muskeln und Bänder so weit dehnst, dass sie reißen könnten.
Ein ausgeklügelter Selbstschutz also.
Wenn deine Nerven lahmgelegt würden, wie zum Beispiel unter Narkose, bekommst du nach dem Stretch-Toleranz-Modell daher auch auf „magischer Weise“ mehr Flexibilität.
Wenn du also ganz schnell zum Schlangenmenschen werden willst: Frage den Anästhesisten deines Vertrauens (oder besser nicht)!
Stretching trainiert (dieser Theorie nach) in erster Linie dein Nervensystem – nicht direkt die muskulären Strukturen und den passiven Bewegungsapparat selbst.
Ob die Theorie stimmt, wird noch diskutiert. Es gibt jedoch Hinweise aus klinischen Studien, die zeigen, dass das Stretch-Toleranz-Modell tatsächlich nicht weit von der Realität entfernt zu sein scheint.
Es werden grob zwei verschiedene Arten des Stretchings unterschieden: Statisches Dehnen und dynamisches Dehnen.
Statisches Dehnen
Statisches Dehnen ist das, was die meisten mit Stretching in Verbindung bringen. Beim statischen Stretching wird eine Position eingenommen und für einige Zeit gehalten. Wenn du Läufer bist und nach dem Training deinen Quadrizeps dehnen willst, dann umfasst du beispielsweise deine Ferse, ziehst sie zum Gesäß hin und bleibst in dieser Position (siehe Bild oben) – das ist statisches Stretching.
Dynamisches Dehnen
Dynamisches Dehnen ist hingegen die rhythmische Bewegung eines Gelenks über den vollen, möglichen Bewegungsspielraum. Dazu zählen Armschwünge, Hüftschwünge und vieles mehr.
Das statische Dehnen – einst fester Bestand eines jeden Sportunterrichts – ist mittlerweile etwas in Verruf geraten. Denn in den letzten beiden Jahrzehnten gab es zahlreiche Studien, die gezeigt haben, dass viele positiven Auswirkungen, die dem statischen Dehnen zugeschrieben wurden, sich leider in Luft auflösten.
Eines dieser positiven Auswirkungen: Statisches Dehnen soll angeblich vor Verletzungen schützen. Dies wurde mittlerweile widerlegt. Verschiedene Studien haben klar gezeigt, dass Dehnen das Risiko einer Verletzung nicht minimiert.
Vielleicht hast du in den letzten Jahren den Ratschlag gehört, dass du dich vor dem Fitnesstraining nicht statisch dehnen sollst. Wenn du dich dehnen möchtest, dann lieber nach dem Sport.
Dieser Ratschlag ist vollkommen richtig und stammt aus der Erkenntnis, dass statisches Dehnen keine, oder sogar eine negative Auswirkung auf das Verletzungsrisiko hat. Insbesondere dann, wenn du in deinem Training mit explosiven, plyometrischen Übungen arbeitest.
Wenn du dich also während des Trainings verletzt oder gezerrt hast, dann liegt das nicht daran, dass du keine Lust aufs Stretching hattest. Vielleicht hast du dich nur nicht richtig aufgewärmt?
Denn mit dem Aufwärmen verhält es sich anders. Machst du dynamische Dehnübungen vor dem Training, dann schützt du dich sehr wohl vor Verletzungen.
Doch dabei geht es eher um Durchblutung und Vorbereitung des passiven und aktiven Bewegungsapparates auf die kommende Belastung – nicht so sehr um eine Vergrößerung des Bewegungsumfangs durch die Dehnung selbst.
Und möchtest du dich im Alltag vor Verletzungen schützen, dann gibt es eine viel wirksamere Methode als das Dehnen: Krafttraining! Denn eine gut ausgeprägte Muskulatur, sowie starke Sehnen und Bänder sind der beste Schutz gegen Verletzungen.
Wir wissen immer noch nicht, wie das Dehnen genau funktioniert. Fakt ist aber, dass es irgendwie funktioniert.
Jedenfalls wenn es darum geht, deine Beweglichkeit zu verbessern. Das können abertausende Yoga-Fans bestätigen.
Zudem hat Stretching einen wohltuenden Effekt. Viele fühlen sich nach dem Stretching einfach besser.
Selbst wenn das Dehnen „nix bringt“ würden viele nicht darauf verzichten wollen, weil es nach dem Training den Körper wieder „herunterfährt“: Der Herzschlag verlangsamt sich, du entspannst dich und leitest somit die Regeneration ein.
Eine Frage steht trotzdem noch aus:
Warum willst du denn eigentlich deine Beweglichkeit verbessern?
Ein großer Bewegungsumfang im Gelenk ist nicht unbedingt besser oder gesünder.
Außerdem müsstest du zusätzlich zu deinem Fitnesstraining (das echte gesundheitliche Vorteile mit sich bringt) viel zusätzliche Energie und Zeit aufbringen, um deinen Bewegungsumfang zu erhöhen. Ein paar Minuten Stretching nach dem Training reichen da nicht aus.
Ich kenne einige, die sind halbe Schlangenmenschen und können sich in den merkwürdigsten Positionen verdrehen – ohne das sie jemals viel dafür machen mussten. Sie wurden allerdings mit diesem „Talent“ geboren.
Jedoch macht sie das nicht fitter oder gesünder. Genauso wenig können sie dadurch ihren Alltag besser bestreiten.
Die meisten von uns sind vielleicht in dem einen oder anderen Gelenk flexibel – aber anderswo wiederum nicht. Meine Flexibilität in der Schulter ist zum Beispiel ganz gut – aber aus dem Stand komme ich nur mit viel Mühe an meine Zehen, wenn ich die Knie durchstrecke.
Sollte ich mich nun täglich dehnen, damit ich es endlich schaffe? Dies wäre eine langfristige Verpflichtung, denn der Effekt lässt schnell wieder nach.
Die Beweglichkeit reduziert sich rasch wieder, wenn du aufhörst dich zu dehnen. Da kannst du jeden fragen, der mal eifrig Yoga gemacht hat, aber irgendwann wieder die Lust dazu verloren hat.
Für mich macht Dehnen um die Beweglichkeit zu verbessern nur dann Sinn, wenn du es wirklich benötigst. Zum Beispiel, um eine bestimmte Aktivität oder Sportart besser ausführen zu können.
Machst du zum Beispiel Kunstturnen oder Ballet, dann erfordert dies viel mehr Beweglichkeit, als Krafttraining an Maschinen im Fitnessstudio. Bei bestimmten Sportarten sind zusätzliche oder integrierte Dehnübungen durchaus sinnvoll.
Häufig findest du Dehnübungen im Internet, mit denen du angeblich deine Körperhaltung verbessern kannst. YouTube ist voll von Videos, die dir zeigen wollen, wie du in kurzer Zeit wieder aufrechter stehst, dein Hohlkreuz wegtrainierst oder deinen „Geierhals“ („Handynacken“) los wirst.
Wenn du deine Körperhaltung korrigieren möchtest, weil du glaubst, dass sie dir Schmerzen verursacht (Nacken- oder Kopfschmerzen, Rückenschmerzen), dann wirst du leider enttäuscht sein. Kurzfristig mögen Dehnübungen helfen die Schmerzen etwas zu lindern – aber langfristig hilft nur ein gutes Fitnessprogramm mit viel Bewegung, Kraftsport und eine gute Schlafhygiene.
Wenn es dir um rein ästhetische Effekte geht – auch da wirst du womöglich enttäuscht sein. So einfach lässt sich die Körperhaltung nicht verändern. Der Effekt ist laut Studien minimal – trotz großer Zeitinvestition.
(Mehr dazu in dem Artikel „Warum du deine Körperhaltung nicht korrigieren musst“).
Du musst dich nicht dehnen, wenn du nicht willst
Die gute Nachricht lautet: Bist du ein Stretching-Muffel und hast einfach keine Lust dich nach, oder zusätzlich zum Fitnesstraining zu dehnen – dann brauchst du kein schlechtes Gewissen haben.
Stretching hilft dir weder dabei Muskelkater zu verhindern, noch ist es eine adäquate Prävention gegen Verletzungen.
Nach einer intensiven Trainingseinheit: Besser nicht dehnen!
Wenn du intensiv trainierst, kann ein anschließendes Dehnen deine Regenerationszeit sogar verlängern.
Denn nach einer starken Beanspruchung der Muskulatur kommt es zu kleinen Rissen im Muskelgewebe. Das ist ganz normal und nach einiger Zeit sind die Muskeln wieder hergestellt.
Wenn du jetzt aber anfängst den Muskel zu dehnen, dann verlängerst du unter Umständen noch die Regenerationszeit.
Du würdest ja zum Beispiel bei einer Wunde auf deiner Haut auch nicht die Haut dehnen. Womöglich platzt die Wunde dann wieder auf. Vereinfacht gesagt, verhält es sich mit der Muskulatur ähnlich: Wenn du sehr beanspruchte Muskeln dehnst, brauchen sie länger, um sich zu erholen.
Wenn dir Stretching gut tut, dann bleibe dabei!
Als therapeutischer Ansatz (zum Beispiel in der Physiotherapie), oder als Cool-Down nach dem (weniger intensiven) Training ist statisches Stretching durchaus sinnvoll.
Fühlst du dich nach dem Training einfach besser wenn du dich dehnst, dann: Go for it! Denn auch der psychologische Effekt des Dehnen ist nicht zu unterschätzen.
Ansonsten gibt es noch andere Methoden, um die Regeneration einzuleiten: Ein gemütlicher Spaziergang an der frischen Luft, eine warme Dusche usw. können genauso gut helfen, dich auf die Erholung nach dem Training einzustimmen.
Dynamisches Dehnen zum Aufwärmen
Aufwärmen vor dem Fitnesstraining ist Pflicht. Hier haben sich beispielsweise dynamische Dehnübungen bewährt: Armschwünge, Hüftkreisen, Beinschwünge usw. wärmen die Gelenke auf versorgen sie mit Nährstoffen.
So bist du schnell einsatzbereit, bleibt verletzungsfrei und kannst auf einen viel höheren Niveau trainieren, als wenn du einen „Kaltstart“ hingelegt hättest.
Auf statisches Dehnen vor dem Training solltest du lieber verzichten. Das bereitet die Muskeln nicht auf Höchstleistung vor. Hier wirst du sogar noch verletzungsanfälliger!