Hast du manchmal Schmerzen im Nacken und in den Schultern? Oder im unteren Rücken? Machst du dafür deine Körperhaltung verantwortlich? Schließlich hängen wir ja fast alle den halben Tag über das Smartphone gebeugt, verbringen viel Zeit im Sitzen und vor dem Computer.

Besonders angenehm ist es nicht, so viel Zeit in der gleichen Haltung zu verbringen. Aber verursacht dein Hohlkreuz oder deine vorgestreckte Kopfhaltung vor dem Bildschirm wirklich die Schmerzen? Und musst du dagegen etwas unternehmen?

Vermutlich nicht. Auch wenn eine ganze Armee von Privatärzten, Therapeuten, YouTubern und Büchern uns das Gegenteil weismachen wollen. Die Wissenschaft sieht das anders.

Eines vorweg: Wenn du eine richtige Fehlhaltung aufweist, weil du z.B. eine verkrümmte Wirbelsäule hast und unter Skoliose leidest, oder durch jahrelanger, körperlicher Arbeit deine Wirbel beschädigt sind, dann bist du wahrscheinlich in ärztlicher Behandlung (und wenn nicht, dann wird es aber Zeit). Und auf solche Probleme beziehe ich mich hier nicht.

Stattdessen möchte ich die gelegentlichen muskulären Verspannungen ansprechen, die wir alle schon einmal erfahren haben. Meistens tauchen sie dann auf, wenn wir lange vor dem Bildschirm arbeiten, oder eine ganze Weile auf das Smartphone starren. Es schmerzen dann häufig der Rücken, die Schultern und der Nacken.

Schaust du dann im Internet nach Lösungen für dein Verspannungsproblem, dann wirst du beinahe mit Informationen erschlagen. Alleine auf YouTube wetteifern dazu tausende Ärzte und Amateure gleichermaßen mit Videos um deine Aufmerksamkeit. In diesen Videos stellen sie dir Übungen vor, mit denen du innerhalb weniger Minuten deine Verspannung loswerden sollst.

Und tatsächlich: Erst einmal helfen viele solcher Übungen wirklich. Aber nach einiger Zeit ist die Verspannung wieder da. Woran kann das nur liegen? Und wie wirst du das Problem denn nun wirklich los?

Ist die falsche Körperhaltung schuld?

Falsche Körperhaltung?

Schnell hast du mit Hilfe von Dr. Google das Problem selbst diagnostiziert: Die Verspannungen kommen eindeutig von deiner falschen Körperhaltung. Kein Wunder, so viel wie du im Sitzen verbringst! Und „Sitzen ist das neue Rauchen“ heißt ja auch ein Bestseller auf dem Büchermarkt.

Dir wird klar, dass du etwas gegen deine schlechte Körperhaltung unternehmen musst. Mittlerweile gilt es ja als Binsenweisheit, dass eine falsche Körperhaltung schuld an den Verspannungen ist, oder?

Auch wenn wir glauben, dies sei eine allgemeingültige Wahrheit, sieht die Wissenschaft das anders: Es gibt keine Korrelation zwischen deinen muskulären Verspannung und einer „schlechten“ Körperhaltung. Das möchte ich anhand zweier „Probleme“ näher erläutern: Dem Hohlkreuz und der vorgestreckten Kopfhaltung vor dem Rechner oder Smartphone.

Was ist ein Hohlkreuz?

Ein Hohlkreuz kannst du gut erkennen: Dein Becken ist nach vorne gekippt und der Po steht nach hinten ab, dein unterer Rücken ist stark gerundet. Das hat der Stellung auch den schönen Namen „Entenpopo“ gegeben.

Um eines schon einmal vorwegzunehmen: Die meisten Leute haben sowieso ein leichtes Hohlkreuz durch ein nach vorne gekipptes Becken. Das ist weiterhin nichts Schlimmes, sondern vollkommen normal. Doch woher kommt das Hohlkreuz? Wodurch wird es verursacht?

Entenpopo
Links: kein Hohlkreuz, rechts: Hohlkreuz („Entenpopo“)

Die Theorie der muskulären Dysbalance

Eine weitläufige Theorie besagt, dass ein Hohlkreuz durch muskuläre Dysbalancen hervorgerufen wird. Darauf berufen sich auch alle, die gegen die Beschwerden Dehn- und Kräftigungsübungen anbieten. Wenn du dich zu dem Thema „Hohlkreuz“ im Internet schlau gemacht hast, dann bist du garantiert auch auf diese Theorie gestoßen. Auf Englisch wird sie „Lower Cross Syndrom“ genannt.

Die Theorie geht folgendermaßen: Du hast eine schwache Bauch- und Gesäßmuskulatur, zusammen mit einem verspannten Hüftbeuger und einem verspannten unteren Rücken:

  • Die Bauch- und Gesäßmuskulatur zieht eigentlich dein Becken nach hinten. Wenn diese Muskulatur also nicht stark ausgeprägt ist, dann könnte sie – rein theoretisch – dein Becken nicht in der richtigen Lage halten. Also kippt es nach vorne und du drückst unweigerlich deinen Po nach hinten: Der Entenpopo entsteht.
  • Zudem ist dein Hüftbeuger und die untere Rückenmuskulatur verkürzt. Sowohl Hüftbeuger, als auch die untere Rückenmuskulatur beugen dein Becken nach vorne. Durch die Verkürzung bleibt dein Becken in dieser Position: Ein Hohlkreuz entsteht.

Aber warum sind deine Bauchmuskeln und deine Gesäßmuskulatur schwach? Und warum ist dein Rücken und dein Hüftbeuger verspannt?

Ist Sitzen das Problem?

Ist Sitzen das Problem?

Der Übeltäter ist schnell gefunden: Das lange Sitzen ist das Problem. Zumindest wenn man der Theorie glauben mag, die du überall vorfindest. Langes Sitzen soll demnach die untere Rückenmuskulatur und den Hüftbeuger verkürzen. Voilà, ein Hohlkreuz entsteht.

Und ein Hohlkreuz ziehe viele andere Probleme nach sich, wie zum Beispiel Rückenschmerzen, Hüftschmerzen und Knieschmerzen. Also nichts wie ran an den Übungen, damit du deine Dysbalance wieder ausbügelst.

Auch ich glaubte jahrelang an dieser Theorie und habe immer brav meine Bauch- und Gesäßmuskulatur trainiert, den Hüftbeuger und den unteren Rücken gedehnt – obwohl ich eigentlich selten Rückenschmerzen habe. Man kann ja nie wissen! So eine Fehlhaltung kann ja offenbar eine Menge Probleme verursachen.

Darum stimmt die Theorie nicht

Doch die Theorie des „Lower Cross Syndrom“ ist nichts anderes als eben das: Nur eine Theorie. Und wissenschaftlich haltbar ist sie nicht. Auch wenn du sie immer wieder von promovierten Ärzten und Therapeuten auf YouTube hörst und in Bestsellern liest.

Denn wenn die Theorie korrekt wäre, dann müsste jeder mit einem Hohlkreuz ja auch einen verkürzten Hüftbeuger, oder schwache Gesäß- und Bauchmuskulatur haben. Hat aber nicht jeder. Dies ist schon seit über 30 Jahren bekannt (z. B. in diesen Studien hier und hier).

Du kannst also noch so sehr deine Bauchmuskeln trainieren oder den Hüftbeuger dehnen – dein Hohlkreuz ist sehr wahrscheinlich nicht verantwortlich für deine Rückenschmerzen. Und diese Erkenntnis von vor 30 Jahren hat sich durch immer mehr Studien verfestigt (z. B. hier).

Selbst wenn du stundenlang in einer sitzenden Position verbringst, ist die Chance gering, dass du durch das Sitzen ein Hohlkreuz bekommst. Meistens sitzen wir noch nicht einmal mit einem Hohlkreuz, sondern eher mit einem Rundrücken. Erst wenn wir versuchen betont gerade zu sitzen, also unsere „Fehlhaltung“ zu korrigieren, kommt ein Hohlkreuz zustande (siehe Bild).

Hohlkreuz
Links: Rundrücken, aber kein Hohlkreuz. Rechts: Betont gerade, aber mit Hohlkreuz.

Wenn du Rückenschmerzen, Knieschmerzen oder Hüftschmerzen hast, dann ist sehr wahrscheinlich dein Hohlkreuz nicht die Ursache dafür. Du brauchst deine Körperhaltung nicht korrigieren – nur weil du ein leichtes Hohlkreuz hast.

Vorgestreckte Kopfhaltung („Geierhals“)

Du sitzt viel am Computer oder schaust auf dein Smartphone. Wenn du länger in dieser Haltung bleibst, schmerzen dir der Nacken und die Schultern? Das liegt doch eindeutig an der Fehlhaltung vor dem Bildschirm, oder? Du schaust dich also im Internet um – und tatsächlich, du entdeckst, dass du eine vorgestreckte Kopfhaltung hast, wenn du am PC oder Smartphone sitzt. Liebevoll auch „Geierhals“ genannt. Du liest weiter, dass ein „Geierhals“ zu allen möglichen Problemen führen kann: Chronische Schmerzen, falscher Atmung, eingeklemmte Nerven. Hilfe! Das musst du sofort ändern.

Also googelst du wieder und entdeckst zahlreiche Übungen, wie du diese Fehlhaltung „korrigieren“ kannst. Aber du erwischt dich immer selbst dabei, wie du unbeabsichtigt die Fehlhaltung einnimmst. Und das ist doch schließlich ein Problem, oder? Wie wirst du den Geierhals denn jetzt wieder los?

Auch hier geht mal wieder einiges durcheinander. Hast du wirklich Schmerzen, weil du eine vorgestreckte Kopfhaltung hast? Musst du diese Haltung daher loswerden? In einer Studie mit über 500 Teilnehmern von 18 bis 65 Jahren wurde keine Verbindung zwischen Nackenschmerzen und dem „Geierhals“ gefunden. Damit ist diese Studie nicht alleine. Auch viele andere Studien (z. B. hier) finden keinen Zusammenhang.

Geierhals
Kopf- oder Nackenschmerzen können auftreten, ob du nun einen „Geierhals“ machst (links), oder betont gerade mit einem Doppelkinn sitzt (rechts).

Ob du nun einen „Geierhals“ hast oder nicht – Nacken- und Kopfschmerzen treten unabhängig davon auf. Wenn du also glaubst, die Fehlhaltung ändern zu müssen, weil du Nacken- und Kopfschmerzen hast, wirst du enttäuscht sein.

Zudem ist es mehr als fraglich, ob du mit Übungen, wie du sie auch zuhauf im Internet findest, deinen „Geierhals“ loswerden kannst. Wenn, dann änderst du deine Haltung wahrscheinlich nur minimal (wie diese Studie hier zeigt). Die vorgestreckte Kopfhaltung ist also nichts, was du unbedingt beheben musst, weil sie Schmerzen verursachen könnte.

Was du stattdessen machen kannst

Okay du musst deine Körperhaltung also nicht unbedingt korrigieren. Aber wie wirst du jetzt langfristig die Probleme los, für die du vorher dein Hohlkreuz oder deinen „Geierhals“ verantwortlich gemacht hast?

Klar kannst du kurzfristig durch Dehnübungen deine Schmerzen in bestimmten Bereichen verringern. Und dafür gibt es genügend Übungen im Internet. Hier musst du einfach auf YouTube mal „Hüftbeuger dehnen“, oder „Stretching unterer Rücken“ eingeben. Und wenn das kurzfristig hilft: Fantastisch!

Aber was ist mit langfristig? Langfristig hilft einfach nur Bewegung, Spaziergänge, Kraftsport und guter Schlaf. Ja, so simpel ist es. Ich weiß, es sind keine „4 geheimen Übungen“. Nein, die gibt es nicht. Und jeder der dir das weismachen will, ist unseriös. Ob mit Doktortitel oder ohne.

Ein Schelm, wer glaubt, dass hier etwas absichtlich von der Fitness- und Gesundheitsindustrie zum „Problem“ gemacht wird, damit wir als Konsumenten dann das „Problem“ lösen wollen. Und dann Lösungen für Probleme verkauft werden, wo es eigentlich keine gibt. Vom Nackenkissen, über Bücher, bis hin zu Zertifizierungskursen ist alles möglich.

Fazit

Viele Therapeuten im Internet und anderswo wollen dir einreden, dass deine Körperhaltung verantwortlich für Rücken-, Nacken-, und Hüftschmerzen ist. Und die Theorie, mit der sie argumentieren ist erst einmal plausibel: Du sitzt viel und dadurch hast du muskuläre Dysbalancen, die ausgeglichen werden müssen.

Jedoch weiß die Wissenschaft schon seit 30 Jahren, dass dem nicht so ist. Schmerzen können ganz unabhängig von einer „richtigen“ oder „falschen“ Körperhaltung auftreten. Zwar können Dehn- und Kräftigungsübungen kurzfristig Abhilfe schaffen, doch langfristig hilft nur ein aktiver Lebensstil mit Bewegung und etwas Sport. Doch mit dieser Weisheit lässt sich wenig Geld verdienen.

Selbst die fittesten Athleten haben z.B. teilweise ein Hohlkreuz – und bei einigen Sportarten ist dies sogar ein Vorteil. Du brauchst dich also nicht unter Druck gesetzt fühlen, dass du deine Körperhaltung unbedingt „korrigieren“ müsstest.

2 Thoughts on “Warum du deine Körperhaltung nicht „korrigieren“ musst”

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