Wie viele Schritte am Tag sind genug?

Wir alle wissen, dass Bewegung gut für uns ist. Wer sich genug bewegt, der wirkt dem Abbau der Muskelmasse entgegen und stärkt seinen wichtigsten Muskel: Das Herz. Wenn der Puls steigt, strömt mehr Blut durch unsere Arterien. Letztendlich bleiben so unsere Blutgefäße elastisch und geschmeidig.

Zudem wird das Immunsystem aktiviert, sowie das Risiko für Diabetes und anderen chronischen Krankheiten gesenkt. Mal abgesehen von den psychischen Nutzen: Du fühlst dich einfach besser.

Das alles nur durch simple Aktivität, ohne dass du dich besonders stark anstrengen musst. Kein Hardcore-Training, kein Keuchen und Pusten, keine Unmengen an Schweiß. Kein Stress. Klingt erst einmal gut.

Doch wie viel Bewegung ist wirklich nötig, um fit zu sein? Sind es tatsächlich die ominösen 10000 Schritte am Tag von denen wir andauernd hören und lesen? So einfach ist die Sache mal wieder nicht.

Das die Zahl einfach aus der Luft gegriffen wurde, ist kein Geheimnis mehr. Vor einigen Jahren berichtete ein amerikanisches Magazin, dass der gesundheitliche Nutzen der 10000 Schritte erstmals 1964 bei einer Marketingkampagne für einen japanischen Schrittzähler auftauchte. Es scheint, dass sich die Zahl auf japanisch einfach gut für die Vermarktung eines Schrittzählers anhörte. Wichtiger als die wissenschaftliche Evidenz für so eine Zahl war der Firma natürlich der Verkauf ihres Produktes.

Dennoch verbreitete sich von Japan aus der Mythos der 10000 Schritte über den gesamten Erdball – und taucht noch heute in allen Frauen- und Fitnesszeitschriften, sowie in jeder sportlichen Ecke des Internets auf.

Aber mal abgesehen von dieser Anekdote scheint es mir ein wenig abenteuerlich, einen generellen Richtwert von 10000 Schritten für die Gesamtbevölkerung unseres Planeten verschreiben zu wollen. Keiner käme doch auf die Idee, dass jeder nur noch Schuhgröße 43 tragen sollte.

Aber so unterschiedlich unser individuelles Bedürfnis im Bezug auf die Fußbekleidung ist, so unterschiedlich ist auch unser individuelles Bedürfnis im Hinblick auf unsere Bewegung. Der 80jährige Diabetiker mit Hüftproblemen ist gerade einmal froh, wenn er es zum Supermarkt um die Ecke schafft, während die 25jährige Marathonläuferin mit ihrem Grundlagentraining ohnehin schon 60 Kilometer in der Woche abreißt.

Absolute Zahlen haben wenig Aussagekraft

10000 Schritte am Tag

Beziehen wir uns auf den gesunden Otto Normalverbraucher – also weder mit Hüftproblemen und Diabetes, noch mit ambitionierten sportlichen Zielen – so kommen wir Menschen weltweit auf durchschnittlich 4000 bis 18000 Schritte am Tag. Dies ist eine beträchtliche Spannbreite.

In der westlichen Welt liegen wir eher im unteren Drittel, ärmere Länder liegen im oberen Drittel der genannten Spannbreite. Einwohner ärmerer Länder sind nicht besonders fit, sondern es fehlt ihnen aus sozio-ökonomischen Gründen an Infrastruktur, die ihnen ein „faules“ Leben mit wenigen Schritten ermöglicht. Einkaufmöglichkeiten, Schule und Arbeitsplatz (falls vorhanden) sind dort eben nicht bequem mit dem Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Deutschland liegt mit 5200 Schritten am Tag im europäischen Mittelfeld.

Doch was sagen solche Zahlen schon aus? Nur weil wir im Durchschnitt nicht besonders fit und leicht übergewichtig sind, müssen wir mehr als die errechneten 5200 Schritte pro Tag zurücklegen, um fitter und schlanker zu werden?

Wenn nicht gerade Max Mustermann auf deinem Ausweis steht, dann sagen die Zahlen nichts über dich und deiner Fitness aus. (Und wenn wirklich Max Mustermann auf deinem Ausweis steht, dann hast du vermutlich zu viel für die gefälschten Papiere bezahlt.)

Wenig aussagekräftig sind auch Studien, bei denen es heißt: „Das Sterberisiko verringert sich um X%, wenn du X Schritte am Tag gehst.“ Solche Studien sind zwar für eine verkaufsstarke Schlagzeile gut, aber besitzen null Relevanz für dein Fitnessverhalten.

Denn meistens bewegen sich gerade diejenigen besonders wenig, die eh schon krank oder bettlägerig sind. Wen wundert’s, dass bei dieser Personengruppe das Sterberisiko erhöht ist? Leider wird dieser Faktor oftmals nicht statistisch berücksichtigt.

Die Paleo-Mär

Wenn die Zahlen nicht helfen, dann muss die Analogie zu unseren Urahnen herhalten. Denn die, so heißt es, hätten sich weitaus mehr bewegt.

Nach einer kurzen Google-Suche zu dem Thema stoße ich auf die Website eines Unternehmens für Büromöbel (?!). Dort finde ich ein Schaubild, das mir ernsthaft erklären will, dass unsere Vorfahren im Durchschnitt 40 km am Tag zurückgelegt hätten!

Rechnen wir das mal aus. Nehmen wir mal an, dass diese Vorfahren mit 5 km/h durchgängig schnell unterwegs waren (was einem mäßigen Tempo entspricht), dann hätten sie 8 Stunden stramm wandern müssen um 40 km zurückzulegen. Dies entspricht einen Kalorienverbrauch von knapp 2000 kcal! Das bedeutet, dass unsere Urahnen 2000 kcal zusätzlich auftreiben mussten, damit sich so ein Verhalten überhaupt „lohnt“.

Ein durchschnittlicher männlicher Vorfahre hätte also mindestens 4500 kcal pro Tag verputzen müssen – und zwar täglich! Mehr als unwahrscheinlich. Zumindest dann, wenn er nicht morgens Donuts, mittags Pizza und abends McDonald’s zur Verfügung hatte. Was ich trotz meiner fehlenden anthropologischen Ausbildung stark bezweifle.

Wie viel unsere Vorfahren sich wirklich bewegten – und nicht bewegten

Apropos Anthropologie: Hier finde ich realistischere Werte zum Bewegungsverhalten unserer Vorfahren, gemessen an heute noch existierenden Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften. So wurden beispielsweise die Hadza (ein Volksstamm aus Tansania, der anscheinend für solche Studien immer herhalten muss) ganz anachronistisch mit Schrittzählern ausgestattet.

Was kam dabei heraus? Sie bewegten sich im Durchschnitt 135 Minuten am Tag. Damit sind wir weit, weit entfernt von den angeblichen 8 Stunden unserer Vorfahren. Eine viel plausiblere Zahl – aber immerhin noch ca. 20000 Schritte.

Übrigens finde ich in einer anderen Studie, dass die Hadza (und damit wahrscheinlich auch unsere Vorfahren) sich 7 bis 11 Stunden am Tag NICHT bewegen. Also sitzend oder hockend verbringen. Interessanterweise deckt sich diese Zeit mit dem Sitzverhalten in westlichen Industrienationen. Mit anderen Worten: Wir sitzen heute nicht mehr, als unsere Vorfahren. Während die aber damit ihre sozialen Kontakte pflegten und sich ausruhten – quasi Netflix and chill am Lagerfeuer – verbringen wir diese Zeit zum größten Teil auf dem Bürostuhl. Das zeigt aber auch, dass so globale Aussagen wie „Sitzen ist das neue Rauchen“ absoluter Humbug sind.

Es bleibt noch zu erwähnen, dass die Hadza mit höchstens 70 Jahren Lebenszeit, trotz den 20000 Schritten am Tag, nicht älter werden als wir. Das heißt, wenn sie nicht vorher sterben. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei nur 33 Jahren.

Welche Schrittzahl wirklich wichtig ist

An welchen Werten kannst du dich nun richten? Weder die 10000 Schritte der japanischen Marketingkampagne, noch die 20000 Schritte unserer Vorfahren haben viel Aussagekraft für dich und dein Leben.

Außerdem sollten wir in Betracht ziehen, dass wir nicht unendlich viel Zeit in unserem Alltag zur Verfügung haben. Die geforderten 10000 Schritte entsprechen immerhin etwas mehr als 1,5 Stunden am Tag. Selbst wenn du dich täglich zu einem anderthalbstündigen Spaziergang motivieren könntest, findest du dafür überhaupt täglich die Zeit? Für die meisten von uns wird dies ein schwieriges Unterfangen.

Die gute Nachricht: Es reichen schon 30 Minuten Bewegung am Tag aus, um dein kardiovaskuläres Risiko für Herzkrankheiten zu senken. Das sind ungefähr 4000 Schritte am Tag. Ein Wert, den viele von uns täglich sowieso schon einhalten. Es sollte nur halt täglich sein – also am besten 7 Tage die Woche.

Wenn du darüber hinaus deine Schrittzahl erhöhen möchtest, um fitter zu werden und all die Vorteile zu genießen, die ein „bewegtes Leben“ so mit sich bringt, dann ist eigentlich nur eine Zahl für dich entscheidend: Die durchschnittliche Schrittzahl, die DU zurücklegst. Denn diese möchtest du ja verbessern.

Wie du deine Schrittzahl verbessern kannst

Hier kann ein Fitness-Tracker oder ein Smartphone helfen, indem du für eine Woche (inklusive dem Wochenende) deine Schritte protokollierst. Nachdem du weißt, wie viel du durchschnittlich an einem Tag zurücklegst, kannst du anfangen diese Zahl langsam zu erhöhen. Fange lieber klein an – vielleicht 500 bis 1000 Schritte mehr. Denn du möchtest erst eine gewisse Kontinuität erreichen, bevor du deine persönlichen Ziele noch höher steckst.

Lass dich bei deinem Vorhaben nicht von absoluten Zahlen beeinflussen. Es spielt eigentlich keine Rolle, ob du nun von 3500 auf 4500 Schritte kommst, oder ob du statt 7000 jetzt 8000 Schritte am Tag gehst. In beiden Fällen hast du dich gesteigert – somit dein Risiko für Herzkrankheiten gesenkt und bist fitter geworden. Vergleiche dich nicht mit anderen oder absoluten Zahlen.

Mach ein Workout draus

Vor einiger Zeit habe ich noch die ganzen Rentner belächelt, die mit ihrem Fahrrad scheinbar eine Spazierfahrt machten und dabei besser ausgerüstet waren als Jan Ullrich. Oder die Leute, die in professioneller Jogging-Montur gemütlich durch den Wald schlenderten.

Heute habe ich verstanden, dass es durchaus motivieren kann, wenn wir ein Workout aus der Sache machen. Du fühlst dich einfach besser, wenn du deinen Spaziergang bewusst als etwas wahrnimmst, was gut für dich und deinen Körper ist.

All die ganzen trivialen Tipps, wie „benutze die Treppe, anstatt den Fahrstuhl“, oder „parke weiter weg“ bringen nicht viel. Wenn du schon immer den Aufzug genommen oder den nächsten Parkplatz gesucht hast, dann fällt es dir schwer dich auf solche Tipps einzulassen.

Denn diese Tipps bedeuten nicht nur eine, sondern eine Vielzahl von Verhaltensveränderungen im Alltag. Und der Mensch neigt aus evolutionsbiologischen Gründen doch eher dazu, mit seinen Energiereserven sparsam umzugehen. Das ist ganz natürlich.

Mache also bewusst ein „Ding“ aus dem Spaziergang. Sage dir: „Jetzt ist es Zeit für mein Workout“ und laufe los. Ein Fitness-Tracker oder das Smartphone mit Schrittzähler kann dich noch zusätzlich motivieren.

Keine Zeit? Kein Problem.

10000 Schritte - langsames Jogging als Alternative

Du hast keine Zeit für tägliche Spaziergänge? Kein Problem, denn neben der Schrittzahl ist auch das Schritt-Tempo entscheidend. Du kannst einfach dein Tempo etwas erhöhen und damit den Zeitaufwand verringern – und hast die gleichen, vielleicht sogar noch bessere Effekte für deine Gesundheit.

Eine der größten Studien zu dem Thema Bewegung und Gesundheit ist die sogenannte Copenhagen Heart Study. Sie läuft seit dem Jahr 1975 mit über 20000 Personen und hat dadurch eine große Aussagekraft. Die Ergebnisse dieser Studie haben Gutes zu berichten.

Es ist nicht viel Aufwand nötig, um dein Leben durch Bewegung zu verlängern. In einem Paper zu der Studie hatten diejenigen die besten Chancen auf ein langes Leben, die es mit der Bewegung nicht übertrieben haben. Die niedrigste Sterblichkeitsrate hatten Personen, die zwei- bis dreimal pro Woche in einem langsamen Tempo joggten. Und das bei nur ein bis zweieinhalb Stunden in der Woche.

Mit anderen Worten: Wenn du fit genug bist, von einem schnellen Gang in ein leichtes Joggingtempo zu wechseln, reichen schon zweimal 30 Minuten in der Woche, um dein Sterberisiko gründlich zu minimieren.

Übrigens sind laut der Studie schnelle Jogger nicht besser dran als Couchpotatoes, die sich erst gar nicht bewegen. Soviel zu „viel hilft viel.“ Manchmal ist in der Tat ein Schritt weniger besser.

Fazit

Bewegung ist gut für unsere Fitness und für ein langes Leben. Soviel steht fest. Doch 10000 Schritte ist ein Wert, der aus der Luft gegriffen ist. Auch unsere Vorfahren bewegten sich nicht den ganzen Tag, sondern wahrscheinlich nur etwas mehr als zwei Stunden. Und haben nebenbei ebenso viel Zeit auf dem eigenen Hintern verbracht wie wir heute.

Absolute Zahlen wie 10000 Schritte sagen nichts über dich und deiner individuellen Fitness aus. Schau dir lieber an, wie viel du im Durchschnitt am Tag läufst und erhöhe langsam die Zahl um 500 bis 1000 Schritte.

Um dich zu motivieren, begreife deine täglichen Spaziergänge als „Workouts“. Das ist wesentlich besser und einfacher einzuhalten, als ganze Zeit auf diverse triviale Tipps wie „nimm die Treppe, nicht den Fahrstuhl“ zu achten. Denn diese verlangen viele Verhaltensveränderungen auf einmal von dir.

Wenn du keine Zeit für tägliche Spaziergänge hast, kannst du auch einfach dein Schritt-Tempo erhöhen. So reicht es zum Beispiel (neben deiner normalen Alltagsaktivität) zwei- bis dreimal die Woche für eine halbe Stunde in einem langsamen Tempo zu joggen. Hier gilt: Schneller ist nicht besser. Dies brachte einer großen Studie zufolge die besten Ergebnisse für ein langes Leben.

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