Muskelversagen: Solltest du bis zum Muskelversagen trainieren?

Wenn du deine Muskeln intensiv trainierst, egal ob mit dem eigenen Körpergewicht oder mit Hanteln und Maschinen, dann kennst du das Gefühl, wenn deine Muskelkraft nicht mehr ausreicht, um den Widerstand zu überwinden.

Die erste Wiederholung ist noch einfach, doch je mehr du machst, desto schwieriger wird es. Irgendwann schaffst du – trotz aller Anstrengung – keine vollständige Wiederholung mehr. Du musst den Trainingssatz abbrechen.

„Muskelversagen“ nennt man landläufig diesen Zustand. Einige preisen ihn als besonders wichtig für den Muskelaufbau an, andere scheuen sich davor wie die Pest. Es ist also ein kontroverses Konzept.

Und dazu ziemlich missverstanden. Denn deine Muskeln haben mit dem „Muskelversagen“ selbst wenig zu tun.

Was ist „Muskelversagen“ denn genau? Ist „Muskelversagen“ wirklich für den Muskelaufbau erforderlich, oder vielleicht sogar hinderlich? Wie solltest du mit „Muskelversagen“ im Training umgehen?

Du hängst dich an die Klimmzugstange und machst ein paar Wiederholungen. Dann kommt der Punkt, an dem du deinen Oberkörper nur noch zentimeterweise nach oben ziehen kannst. Plötzlich geht gar nichts mehr und du hängst zitternd in der Luft. Schließlich gibst du auf und beendest deinen Trainingssatz.

„Muskelversagen“ scheint ein physisches Phänomen zu sein. Irgendwann hat der Muskel eben keine Kraft mehr, kann nicht mehr effektiv kontrahieren. Er ist erschöpft und vorübergehend geschwächt. Wartest du einige Zeit, so wird er wieder einsatzbereit sein.

Aber vielleicht kennst du auch folgende Situation, wenn du schon länger Fitnesstraining betreibst: 

Du trainierst mit einem Trainingspartner, der dich so richtig anfeuert. Du dachtest, der Muskel wäre vollkommen erschöpft, aber irgendwie schaffst du doch noch zwei weitere Wiederholungen. Alleine durch deinen Willen konntest du mehr aus dem Muskel herausholen.

Beides scheint zu stimmen: Muskeln haben eine bestimmte physische Arbeitsleistung, aber trotzdem kannst du das Muskelversagen willentlich beeinflussen. Wie kann das? 

Was „Muskelversagen“ nicht ist

Wenn du schon mal mit mittelschweren oder leichten Widerständen trainiert hast, dann kennst du das brennende Gefühl in der Muskulatur, wenn du dich dem „Muskelversagen“ näherst. 

„Der Muskel muss brennen“, so heißt auch ein alter Spruch aus dem Training. Was da so brennt ist Laktatsäure

Laktatsäure ist quasi ein Nebenprodukt der Muskelarbeit, wenn der Körper nicht mehr genügend Sauerstoff bereitstellen kann, um den Energiebedarf des Muskels zu decken. Das Brennen ist also tatsächlich ein Signal dafür, dass dein Muskel hart arbeitet. 

Früher hat man daher die Anhäufung von Laktat für das Muskelversagen verantwortlich gemacht. Mittlerweile ist aber bekannt, dass es keinen Zusammenhang zwischen Laktat und Muskelkontraktion gibt. 

Es ist also kein biochemisches Signal des Muskels selbst, das zum „Muskelversagen“ führt. Sonst könnte dich dein Trainingspartner noch so sehr anschreien, du würdest einfach keine zusätzliche Wiederholung schaffen. 

Der Muskel würde jedes Mal – sobald er erholt ist – so ziemlich die gleiche Arbeitsleistung besitzen. Du könntest nicht mit hoher Willensanstrengung noch ein oder zwei Wiederholungen mehr „herausquetschen“.

„Muskelversagen“ ist kein Versagen des Muskels

Muskelversagen ist kein Versagen des Muskels

Wir können daraus schließen, dass „Muskelversagen“ nicht alleine von der Muskulatur ausgelöst wird

Es ist etwas anderes, was das „Muskelversagen“ bedingt. Und ich schreibe „Muskelversagen“ in Anführungszeichen, weil hier der Muskel eigentlich nicht wirklich versagt. 

Was wir häufig übersehen: Es ist das Hirn, das die Muskeln steuert. Und unser Hirn ist an dem, was wir „Muskelversagen“ nennen, mehr beteiligt als der Muskel selbst. 

Das Hirn misst quasi den Energieverbrauch in unserem Muskel, so wie wir beispielsweise ab und zu ein Auge auf die Tankanzeige im Auto werfen, um zu schauen, ob wir noch genügend Benzin im Tank haben. Bevor die Tankanzeige auf Null fällt, unterbrechen wir unsere Fahrt und tanken wieder auf. 

So ähnlich funktioniert die Muskelarbeit auch. Der genaue Mechanismus ist zwar noch unbekannt, aber unser Hirn hat die Möglichkeit unsere Muskelkontraktion anzuhalten, noch bevor das Benzin im Muskeltank vollkommen leer ist. 

Die Nervenzellen werden einfach weniger befeuert. Das merkst du selbst daran, dass die Bewegung zunächst immer langsamer wird, bis du zum Beispiel die Hantel bei einem Bizepscurl gar nicht mehr bewegen kannst. 

Mit anderen Worten: Das Hirn fährt zur Tankstelle, bevor der Tank leer ist. Es merkt, dass der Muskel zu viel gefordert wird und sendet weniger Signale zur Kontraktion.

Ein besserer Begriff wäre also eher Kontraktionsversagen statt „Muskelversagen“. 

Wenn dich der Trainingspartner gut motiviert oder du in einer Extremsituation bist, schafft deine Muskulatur daher auch ein wenig mehr Leistung als sonst. Das Hirn erkennt die Ausnahmesituation und gibt den „Reservetank“ frei.

„Muskelversagen“: Ein fehlgedeutetes Konzept

Wir haben es also mit einem Kontraktionsversagen zu tun, weil das Hirn die Motoneuronen der Muskelfasern ab einem bestimmten Zeitpunkt weniger befeuert. 

Aber ist das wirklich wichtig zu wissen? Ja, ist es. 

So fallen wir auf viele Fehlannahmen und Vereinfachungen nicht mehr herein, die mit der Idee des „Muskelversagens“ immer wieder kolportiert werden. 

Befürworter des „Muskelversagens“ argumentieren hauptsächlich mit diesen drei Punkten:

  • „Wenn du bis zum Muskelversagen trainierst, dann werden bestimmte Hormone ausgeschüttet, die dein Muskelwachstum vorantreiben.“
  • „Erst wenn du bis zum Muskelversagen trainierst, hast du alle Muskelfasern des Muskels rekrutiert. Und das ist wichtig, damit du einen Wachstumsreiz setzt.“
  • „Es zählen nur die letzten Wiederholungen bis zum Muskelversagen. Alle Wiederholungen davor bringen dir nichts.“

Solche Aussagen malen das falsche Bild vom „Muskelversagen“ als einer „magischen Schwelle“, die du überschreiten musst, damit deine Muskeln auch auf den Trainingsreiz reagieren.

Diese Idee konnte nur entstehen, weil die Muskeln quasi als autonomes, physisches „Anhängsel“ gedacht wurden, die du vollkommen erschöpfen musst, damit sie sich anpassen. 

Dabei reguliert das zentrale Nervensystem wie viel muskuläre Erschöpfung es überhaupt zulässt und ob ein Signal zum Wachstum gesetzt wird – oder nicht. 

Eine magische Schwelle ist das Kontraktionsversagen daher nicht. Unter anderem konnte in einer großen Metastudie gezeigt werden, dass ein Training bis kurz vor dem Kontraktionsversagen genau so effektiv für den Muskelaufbau ist. 

Nachteile eines Trainings bis zum „Muskelversagen“

Nachteile eines Trainings bis zum Muskelversagen

Verfechter eines Trainings bis zum „Muskelversagen“ verweisen oft auf Studien, die dieser Trainingsart eine höhere Wachstumshormonausschüttung bescheinigen. Doch eine höhere Wachstumshormonausschüttung bedeutet nicht unbedingt mehr Muskulatur. 

Zudem werden bei einem Training bis zur vollkommenen muskulären Erschöpfung auch viele Stresshormone ausgeschüttet, die dem Muskelzuwachs definitiv hinderlich sind. 

Wenn du ständig bis zum Kontraktionsversagen trainierst, bringst du deinen Körper in ein biochemisches Umfeld, das nur damit beschäftigt ist den Schaden zu reparieren. An Muskelwachstum ist nicht zu denken.

Das mag nicht so schlimm sein, wenn du die jeweilige Muskelgruppe nur einmal pro Woche trainierst. Allerdings ist die Trainingsfrequenz und das Trainingsvolumen, also wie häufig und wie viel du trainierst, ein wesentlicher Faktor für das Muskelwachstum.

Tipps für dein Training

  • Wenn du mehr als ein- oder zweimal pro Woche alle Muskelgruppen trainierst, dann solltest du von einem Training bis zum „Muskelversagen“ Abstand nehmen.
  • Trainiere jeden Satz bis zu einer ausreichenden Erschöpfung der Muskulatur. Lass aber immer gefühlt ein bis zwei Wiederholungen „im Tank“.
  • Breche den Trainingssatz spätestens dann ab, wenn du merkst, dass deine Wiederholungen langsamer werden und die Ausführung „stottert“ oder deine Ausführungsform nachlässtHier beschreibe ich eine einfache Methode für den Muskelaufbau.
  • Mache dir bewusst, dass das Hirn die Muskeln steuert. Nicht der Widerstand, sondern du bist der Akteur eines jeden Trainingssatzes und jeder Wiederholung. Konzentriere dich auf eine gute Kontraktion der Zielmuskulatur.
  • Dein Hirn steuert die Muskeln, aber das Hirn ist nicht geeignet für Multitasking. Wenn du dich ablenkst oder nicht bei der Sache bist, dann nimmt die Trainingsqualität ab. Fokus und Konzentration ist ein wichtiger Aspekt des Trainings.

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