Lektine, Phytinsäure und Co.: Keine Angst vor Antinährstoffe

Als denkender Mensch hast du es schwer. Insbesondere wenn es um Ernährung geht. Wenn du dich mit Ernährungsthemen beschäftigst, dann vergeht kaum eine Woche, ohne dass du auf gegensätzliche Aussagen triffst.

Nehmen wir zum Beispiel an, dass du einige Tage in der Woche auf Fleisch verzichten möchtest. Das soll ja gesund sein und zudem noch der Umwelt helfen. Viele Ernährungsexperten empfehlen statt des Fleischkonsums mehr Gemüse, vollwertiges Getreide und Hülsenfrüchte. Letztere sind auch ein prima Ersatz für das Fleisch, weil sie neben Mineralien noch einiges an Protein zu bieten haben.

Wären da nicht die Antinährstoffe. Das sind sekundäre Pflanzenstoffe, die eine gesundheitsschädliche Wirkung entfalten. Und die gesunde Pflanzenkost ist anscheinend voll davon. Sie heißen Lektine, Phytinsäure oder Oxalsäure und sind die Bad Boys der angeblich so gesunden Ernährung.

Sie greifen deine Darmwand an, können zu Entzündungen führen, verhindern die Aufnahme von Nährstoffen und sind noch für viele andere Gemeinheiten verantwortlich. Gesund ist anders.

Also doch lieber zum Paleo-Neandertaler werden und mehr Fleisch essen, um die bösen Antinährstoffe zu umgehen?

Nein, das brauchst du nicht. Die schädliche Wirkung von Lektine, Phytinsäure und Co. spielen für unsere Ernährung kaum eine Rolle – wenn du dich nicht gerade vollkommen abenteuerlich ernährst.

Wir fallen immer wieder darauf herein: Alles was angeblich „natürlich“ ist besitzt für uns einen hohen Stellenwert und ist positiv besetzt. Die Natur ist lieb zu uns und alles was natürlich ist, ist gut.

Das hat auch die Industrie erkannt. Daher prangt auf vielen Etiketten – von der Kosmetik bis zum Nahrungsmittel – ein Hinweis auf die „Natürlichkeit“ des Produktes. So sollst du als Käufer angelockt werden.

Ja, sogar dein Joghurt ist mit „natürlichen Aromen“ versetzt. Das klingt viel besser als „Wir haben durch komplexe, biochemische Prozesse aus einer Schimmelpilzkultur etwas gewonnen, was mit etwas Phantasie so ähnlich wie Erdbeere schmeckt und in deinen Joghurt gemischt“.

Aber wenn du jemals im Winter bei Schneeregen durchgefroren auf einem Bahnsteig standest und der Zug 30 Minuten Verspätung hatte, dann kennst du die Wahrheit: Die Natur ist eigentlich gar nicht so lieb.

Wir leben nur mit unseren Smartphones, Supermärkten und Zentralheizungen so weit von der Natur entfernt, dass wir sie gerne romantisieren. Alles was aus der Natur kommt ist aber nicht unbedingt gut für uns. Das scheinen wir manchmal vergessen zu haben.

Pflanzen wissen sich zu wehren

Lektine, Phytine: Pflanzen wissen sich zu wehren

Letztes Jahr bin ich mit einem Buch zur Pflanzenbestimmung durch die Natur gewandert. Ich wollte einfach mal wissen, was da so links und rechts vom Wege wächst. Und spätestens da habe ich bemerkt: Die Natur kann auch richtig fies sein.

Kein Gewächs kam gut weg, wenn es um den Verzehr ging. „Nicht zum Verzehr geeignet, sehr giftig“, „Roh sehr giftig, aber gekocht äußerst schmackhaft“ oder „Nicht giftig, kann aber zu Durchfällen führen“ waren Standardbemerkungen die ich während meiner Exkursion las.

Es wäre auch töricht zu glauben, dass nur wir von der Evolution begünstigt wurden. Auch Pflanzen haben „gelernt“ sich an ihrer Umwelt anzupassen und zu überleben. Sie möchten sich vor Fraßfeinden schützen. Und das gilt besonders für Körner und Samen – denn aus ihnen entstehen ja schließlich die Nachkommen der Pflanze.

Und so haben viele Pflanzen sogenannte Antinährstoffe gebildet, die ihnen beim Überleben helfen. Sie kommen in vielen Pflanzen vor und schützen sie davor von Insekten oder Tieren gefressen zu werden.

Antinährstoffe sind weder „gut“ noch „böse“

Zu den bekanntesten Antinährstoffen gehören:

Lektine

Lektine kommen in Samen, Hülsenfrüchte und Getreide vor. Sie verbinden sich mit Kohlenhydratstrukturen quasi zu eine Art Klebstoff und könnten so zu Problemen führen. Ein häufig genanntes Problem ist das Leaky-Gut-Syndrom, der durchlässige Darm. Das hört sich nicht schön an.

Glucosinolate

Glucosinolate sind schwefelhaltig und kommen z. B. in Kreuzblütler, wie Broccoli oder verschiedenen Kohlsorten vor. Sie verhindern die Aufnahme von Jod und könnten daher theoretisch zu Schilddrüsenproblemen führen.

Oxalsäure

Oxalsäure ist in hohen Mengen in Spinat, Mangold und Rhabarber vorhanden. Sie verhindert die Aufnahme von Mineralstoffen, insbesondere Kalzium, und kann zu Nierensteinen führen.

Phytinsäure

Phytinsäure kommt in Hülsenfrüchte und Vollkorngetreide vor. Auch sie reduziert die Aufnahme von Mineralstoffen wie Kalzium, Zink und Magnesium.

Hört sich erst einmal schlecht an. Aber weder die Natur, noch die Antinährstoffe sind „gut“ oder „böse“.

Wie alles in der Natur, kommt es auch hier auf den richtigen Umgang an:

  • Das Lektine nicht gut für Menschen sind, ist nicht neu. Aber Bohnen und Linsen wird auch keiner roh essen. Die meisten Lektine sind nicht hitzestabil und lassen sich durch kochen unschädlich machen. Eine Ausnahme dazu ist Lektin, das in Weizen zu finden ist. Deshalb wird manchmal auch behauptet, dass Brot schädlich sei. Das stimmt jedoch nicht. Dazu gleich mehr.
  • Auch Glucosinolate in Broccoli und Kohl sind kein Problem. Du müsstest schon über Monate hinweg Unmengen essen, damit der Pflanzenstoff negative Auswirkungen auf deinen Körper hat. Im Gegenteil: Wir essen eher zu wenig davon. Denn Glucosinolate könnten womöglich hilfreich sein, indem sie dein Immunsystem stimulieren und das Risiko für manche Krebsarten verringern. Da ist sich die Wissenschaft aber noch nicht 100% sicher. Zudem verringert sich der Gehalt von Glucosinolate im Gemüse auch hier, wenn es du es kochst.
  • Auch bei der Oxalsäure macht die Menge das Gift. Es stimmt zwar, dass sie die Aufnahme von Kalzium behindert. Aber auch hier reduziert kochen oder blanchieren den Gehalt erheblich. Wenn du auf traditionelle Zubereitungsmethoden und Mischkost setzt, gibt es keinerlei Probleme – selbst wenn du absoluter Spinat-Fan bist. Anders sieht es mit den „gesunden“ grünen Smoothies aus: Wenn du täglich eine große Menge rohen Spinat in den Mixer packst, um dir mit dem grünen Gesöff den Vitamin- und Mineralkick zu geben, dann kann der Schuss nach hinten losgehen.
  • Hülsenfrüchte und Vollkorngetreide enthalten zwar Phytinsäure, aber sie bringen das Enzym zum Abbau der Säure (Phytase) direkt mit. Um das Enzym zu aktivieren muss das Korn fein gemahlen werden – was bei Mehl der Fall ist. Bei Hülsenfrüchte wird es durch einweichen oder kochen aktiviert. So sinkt der Phytinsäuregehalt der Lebensmittel. Zudem hat Phytinsäure auch positive Eigenschaften. Sie kann dabei helfen den Blutzuckerspiegel und das LDL-Cholesterin zu senken und verringert das Risiko für Nierensteine.

Der Mensch: Das kochende Tier

Die meisten Antinährstoffe kannst du also durch traditionelle Zubereitungsmethoden einfach unschädlich machen. Kochen ist dafür eine hervorragende Methode.

Nicht umsonst sind wir die einzigen Tiere, die ihr Essen ins Feuer schmeißen. Der Anthropologe Richard Wrangham geht davon aus, dass wir durch kochen erst zu dem geworden sind, was wir heute sind. Erst dadurch, dass wir Nahrung erhitzen, konnten wir genug Kalorien und Nährstoffe zu uns nehmen, die unsere Gehirne schließlich wachsen ließen. Wir sind also kochende Affen.

Doch auch wenn das Kochen eng mit unserer DNA verbunden ist, gibt es genug Scherzkekse, die meinen, sie könnten sich durch alternative Ernährungsformen „gesünder“ ernähren. Weder nur Rohkost, noch literweise grüne Smoothies oder einseitige Ernährung sind für uns langfristig geeignet. Und wenn es wirklich Probleme mit Antinährstoffe geben sollte, dann sind sie dort zu finden.

Dumm wie Brot? Lektine im Weizen

Bleibt noch die Sache mit dem Brot. Unser Brot wird meistens aus Weizen hergestellt und insbesondere das volle Korn enthält Lektine, die nicht so schnell durch Hitze abgebaut werden.

Böse Zungen behaupten daher, dass wir alle Löcher im Kopf und im Darm bekommen, wenn wir regelmäßig Weizenbrot essen. Werden wir alle zu Toastbrot?

Die Mär von der löchrigen Darmwand durch Weizenbrot ist wissenschaftlich nicht haltbar. „Leaky Gut-Syndrom“ ist kein wissenschaftlicher Begriff und in der Medizin nirgendwo zu finden. Bekannt sind Unverträglichkeiten des Weizeneiweißes (Gluten), aber auch die betreffen weniger Menschen, als du vermuten magst.

Die Mehrheit der Leute verträgt Weizen ohne Probleme. Nur wenn WGA (wheat germ agglutinin), so nennt sich das Weizenlektin, in hohen Mengen isoliert zugeführt wird, könnte (könnte!) es zu Problemen kommen.

In verarbeiteten Lebensmitteln (wie es Brot auch eines ist) sind bisher keine ungünstigen Effekte beobachtet worden. Zu dem Ergebnis kam auch eine Überblicksstudie zum Thema Weizenlektin. Dort heißt es:

„Die momentane Datenlage zu Lektine, wie sie in gekochten, gebackenen oder extrudierten Lebensmitteln konsumiert werden, spricht gegen gesundheitsschädliche Effekte im Menschen. Im Gegenteil, der Konsum von Lebensmittel mit WGA, wie Getreide und Vollkornprodukte, wird mit einem verminderten Risiko für Diabetes Typ 2, Herzkrankheiten, manchen Krebsarten, als auch besseres Gewichtsmanagement in Verbindung gebracht.“

Hast du trotzdem Probleme mit Vollkorn und Hülsenfrüchte?

Wenn du trotzdem Probleme mit Vollkorn oder Hülsenfrüchte hast, dann sind höchstwahrscheinlich nicht die Antinährstoffe daran schuld.

Zuerst sollte natürlich ausgeschlossen werden, dass du unter einer Krankheit, Nahrungsmittelunverträglichkeit oder Allergie leidest. Krankheiten wie das Reizdarmsyndrom sind wahrscheinlich multifaktoriell und nicht auf einen einzigen (Anti-)Nährstoff zurückzuführen. Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Allergien sind seltener – können aber durch Tests aufgespürt werden.

Die meisten von uns kämen aber durchaus mit mehr Hülsenfrüchte oder Vollkorn in der Ernährung klar. Sie müssten sich nur etwas Zeit geben, um sich daran zu gewöhnen. Wenn du von deiner „normalen“ Kost direkt auf Haferflocken zum Frühstück, Vollkornspaghetti mit Linsenbolognese zum Mittag und Vollkornbrot am Abend umsteigst, dann ist es kein Wunder, wenn du Darmprobleme bekommst.

Ursächlich dafür sind wahrscheinlich die Ballaststoffe. Denn an eine größere Menge Ballaststoffe muss sich dein Darm erst gewöhnen. Das geht nicht von heute auf morgen. Vielmehr solltest du langsam und gemächlich auf die neue Kostform umsteigen. Dann wirst du keine Probleme haben und du kannst von den Vorteilen einer ballastoffreicheren Ernährung profitieren.

Fazit

Die Natur ist nicht „lieb“ und sie hat uns die Pflanzen nicht in „gut“ und „schlecht“ eingeteilt. Viele Pflanzen haben Antinährstoffe, die jedoch ganz natürlich sind. Sie schützen die Pflanze vor Fraßfeinden. Im Laufe unserer Evolution haben wir aber eine gute Methode herausgefunden, wie wir damit umgehen können: Das Kochen.

Durch traditionelle Zubereitungsmethoden werden die meisten Antinährstoffe unschädlich gemacht. Und wenn du dich nicht einseitig ernährst, oder literweise grüne Smoothies und Rohkost verzehrst, stellen sie aller Wahrscheinlichkeit nach kein Problem dar.

Selbst das von vielen an den Pranger gestellte Weizenlektin, das sich durch kochen nicht gänzlich umgehen lässt, stellt kein Problem dar. Es wurden keine ungünstigen Effekte für die Gesundheit bei verarbeiteten Lebensmitteln, wie Brot oder Nudeln, gefunden.

Falls du trotzdem Probleme mit Hülsenfrüchte oder Vollkorn hast, dann liegt dies möglicherweise daran, dass du dich an die Ballaststoffe erst langsam gewöhnen musst.

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